VERÖFFENTLICHT AM 23.02.17

Das Kuratorium hat seine Auswahl getroffen

Darf man es sagen, will man es sagen? Das 4. Schweizer Theatertreffen ist ein Treffen, das die Schweiz treffen soll. Und zwar genau dort, wo sich nicht nur angenehme Empfindungen regen. Die diesjährige Auswahl zeigt die Schweizer Theaterlandschaft, die sich zäh und zähneknirschend mit dem Heute auseinandersetzt. Mit dem Heute in diesem Land.

Heute in der Schweiz, das ist heute in Europa. Milo Rau weist darauf hin, wenn er in „Empire“ Europa durch die Nahaufnahmen von Flüchtlingen zur Debatte stellt. Ähnlich Simon Stone, er verortet Tschechows „Drei Schwestern“ in der unmittelbaren Gegenwart. Moskau ist Basel. Doch ohne Bezug zur Vergangenheit, hat das Heute keinen Halt. Die Produktion kann aus technischen Gründen nicht gezeigt werden, ist aber programmatisch für die gesamte Auswahl. Trickster-p arbeitet ähnlich kompromisslos in „_Twilight“; in ihrer Jetztzeit wird auf die menschliche Präsenz ganz verzichtet. Ist „_Twilight“ Tschechow ins Heute weitergedacht?

Fest steht, im Tessin findet Avantgarde statt. Wie die früheren Pioniere auf dem Monte Verità arbeiten die Neuerer heute nicht abseits vom Publikum, sondern auf gemeinsamer Augenhöhe, im Theater. Trickster-p  wie  Simon Stone setzen auf die offenen Sinne ihrer Zuschauer. Doch im Gegensatz zur Basler Version ist die Südschweizer Versuchsanlage der Strenge und der Reduktion verpflichtet. Rigoros arbeitet auch Carmelo Rifici, wenn er seine Inszenierung „Purgatorio“, ein Stück von Ariel Dorfmann, auf einer Bühne verortet, die selbst nicht zu verorten ist. Es scheint ihm dabei ähnlich zu ergehen wie Sophie Bodamer, die fünf Schweizer Visitenkarten fünfmal anders inszeniert. Kein Ort, nirgends, ist das die Schweiz heute? Oder ist unser Land, wie das Théâtre Alchimic meint, ein „Alpenstock“? Ein delirierend verstocktes eidgenössisches Paar, das, programmatisch, Grete und Fritz heisst?

Ortlosigkeit ist der Faden, den die Jury nicht gesucht, doch in der Auswahl gefunden hat. Auch „Zersplittert“ erzählt davon, das neue Stück von Alexandra Badea, das dank dem Theater Marie zur Schweizer Erstaufführung kam. Was Badea aus der grossen Welt erzählt, gilt in unseren eigenen kleinen Büro-Etagen. Alles hängt mit allem zusammen, es gibt keine Zufälle, und Fabrice Gorgerat wird das bestätigen, er ist ein Spezialist für den Schmetterlingseffekt. Sein Stück „Blanche/Katrina“ gibt dem Publikum einen quasi-wissenschaftlichen Schlüssel in die Hand, um Umwelt als Mitwelt zu verstehen. Was gestern war, muss sich heute nicht wiederholen. 

Nur, was tun, wenn man wie Tschechows „Schwestern“ den Glauben an heute ins Morgen verlegt? Auch darauf hat das 4. Schweizer Theatertreffen eine Antwort. Man wird die Wartezeit mit dem fulminanten Reenactment der Marx-Brothers füllen. Gute Unterhaltung, wenn immer es Ihnen zum Lachen zumute sein wird!

Für das Kuratorium: Daniele Muscionico