VERÖFFENTLICHT AM 15.01.16

János Blum zur Eröffnung des Theatertreffens

Chère Madame la directrice de l’Office fédéral de la culture Isabelle Chassot, Herr Stadtpräsident Michael Künzle, Herr Präsident und Frau Vizepräsidentin des Schweizer Theatertreffens, Adrian Marthaler und Sandrine Kuster, liebe Festivalleiterin Sarah Müller, Herr René Munz und Herr Thomas Guglielmetti vom Theater Winterthur, chers professionnels et amateurs du théâtre suisse, cari amici!

Im Namen der Zürcher Kantonalbank freue ich mich, Sie zur Eröffnung des Schweizer Theatertreffens 2015 begrüssen zu dürfen.
Von ähnlichen Anlässen, vor allem den Filmfestivals, die ich regelmässig besuche, bin ich es eigentlich gewohnt, dass die Preise erst am Schluss und nicht bereits am Anfang verliehen werden. Dies, obwohl die Filme vor dem Festival bereits fertiggeschnitten und montiert sind und die Jury sie sich schon im Voraus anschauen könnte. Filme kann man denn auch beliebig oft aus der Büchse holen und immer wieder zeigen, während Theater in jeder Aufführung von neuem erspielt wird, persönlich und exklusiv für das anwesende Publikum und im Austausch mit diesem, ein Unikat, eine „création“, eine luxuriöse Einzelanfertigung sozusagen. Während der Film vor allem im englischen Sprachraum immer mehr zum kapitalintensiven, effizient vermarkteten Massenprodukt mutiert, bleibt das Theater unmittelbar und intensiv, von Mensch zu Mensch, von Angesicht zu Angesicht, face to face statt Facebook to Facebook.
Das Theater widersetzt sich der banalen Beliebigkeit der elektronischen Kommunikationsmittel, welche echte Kommunikation zumeist verhindern.
Einen Preis für den besten Autor gibt es am Schweizerischen Theatertreffen bekanntlich nicht, deshalb möchte ich ihn jetzt wenigstens imaginär verleihen. Mein klarer Favorit ist William Shakespeare – und zwar mit seinem Stück „Much Ado about Nothing“, welches, wie es sich für das preisgekrönte Werk gebührt, am Schlussabend gespielt wird. "Viel Lärm um Nichts" – "Molto Rumore per Nulla" – "Beaucoup de Bruit pour Rien". Eigentlich alles ungenaue Übersetzungen. Das Original – "Much Ado about Nothing" – hat nämlich eine etwas andere, eine subtilere Bedeutung. Denn erstens steht ja das Wort "Ado" nicht für Lärm, sondern für das Getue, fürs Aufheben. Und zweitens steckt gemäss Literaturforschung hinter dem Wort "Nothing" ein kleines Wortspiel, eine für das damalige englische Ohr eindeutige Zweideutigkeit: "Nothing" konnte nämlich auch als "Noting", also das "Merken" oder die "Aufmerksamkeit" verstanden werden. Es geht also um das Getue, um den Kampf um Aufmerksamkeit, um das Bemerktwerden, um den Unterschied zwischen echten und virtuellen Welten, zwischen Wahrhaftigkeit und Manipulation.
Kampf um Aufmerksamkeit, virtuelle Welten, manipulierte Wahrnehmung: Damit hätten wir den Bogen vom 16. Jahrhundert zur Aktualität gespannt. An dieser Stelle könnten wir uns wieder über die zunehmende Einschaltquoten- und Klickratenabhängigkeit der Medien oder den wachsenden Populismus in der Politik beklagen. Aber lassen wir das für heute beiseite.

Theater fand lange Zeit in einem Dreiklassensystem, nach gesellschaftlichen Schichten getrennt, statt. Die Aristokraten hatten schon immer das Hoftheater. Für die einfachen Leute spielten Wandertruppen mit Schaustellern, Gauklern und Scharlatanen aller Art. Aus dieser Zeit kommt vielleicht auch die etwas unseriöse, abschätzige Konnotation des „Theatermachens“ – auf Französisch sagt man zwar eher „Faire du cinéma“. Nicht nur „Karl’s Kühne Gassenschau“, auch Shakespeare selbst erweist in vielen seiner Stücke Reverenz an die volkstümliche Posse, so auch in „Viel Lärm um Nichts“. Oder noch prominenter im „Sommernachtstraum“, der auf drei Bühnen nebeneinander spielt – Götter, Adelige und Handwerker, das einfache Volk. Erst mit dem Erstarken des dritten Standes, des Bürgertums, kam schliesslich die heute bekannte Form des Volkstheaters auf.

Nebst dem Hauptpreis möchte ich noch ein virtuelles Diplom oder eine „mention spéciale“ an den Vertreter dieses bürgerlichen Theaters, Friedrich Schiller, verleihen, auch für seinen Beitrag zur schweizerischen Identitätsbildung – wenn auch nicht mit dem Stück, das übermorgen hier gespielt wird.
Zu Schillers Zeiten wurden im deutschsprachigen Raum die ersten Nationaltheater gegründet, etwa in Mannheim, Weimar oder das Hofburgtheater in Wien, das übrigens mit „Wallensteins Lager“
eröffnete. Frankreich war mit der Comédie-Française am Palais Royal bereits hundert Jahre voraus. Die Institution des Nationaltheaters entstand gleichzeitig mit dem Aufkommen der Nationalstaaten, um die nationale Kultur über die gesellschaftlichen Schichten hinweg zu pflegen, mit der einheitlichen Nationalsprache im Mittelpunkt.
Logischerweise hat die Schweiz kein Nationaltheater. Wir haben zwar Nationalparks, Nationalmuseen, eine Nationalbibliothek, eine Nationalbank, einen Nationalrat, sogar einen Nationalzirkus – aber kein Nationaltheater. Die Theaterlandschaft hierzulande ist dezentral – regional, kantonal, städtisch – ein Abbild des Landes selbst.


Deshalb braucht es unbedingt ein Schweizerisches Theatertreffen über die Sprachgrenzen, über die Regionen hinweg. Ein Unterfangen, das wir fördern möchten.
Fördern heisst nicht nur das Bereitstellen von finanziellen Mitteln, sondern ebenso die Schaffung von Plattformen. Plattformen sind die Voraussetzung für das Zusammentreffen von Kunstschaffenden und Publikum, von Theaterleuten untereinander und auch mit anderen Akteuren der Gesellschaft: Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien.
Dieser Gedanke liegt auch der Sponsoring Strategie der Zürcher Kantonalbank zugrunde. Wir wollen Menschen zusammenbringen. Wir unterstützen deshalb Plattformen, die den Kontakt zwischen Künstlern und ihrem Publikum fördern. So engagieren wir uns unter anderem für das Zürcher Theaterspektakel, das beispielhaft die Begegnung zwischen internationalen Künstlern mit dem heimischen Publikum ermöglicht. Wie vielfältig solche Begegnungen sein können, zeigen auch unsere Partnerschaften hier in Winterthur: Das Sommer Theater, das Casinotheater Winterthur oder das Theater Kanton Zürich, das übrigens morgen „Romeo und Julia“ hier auf dem Kirchplatz spielt. Die Nähe zwischen Theater und Publikum ist in Winterthur in besonderem Masse spürbar und zeichnet die lebendige Kulturszene der Stadt aus.
Ist Schweizer Theater Ausdruck der Schweizer Gesellschaft? Theater arbeitet vernetzt, jenseits von nationalen Grenzen. Schweizer Theaterschaffende sind oft stark von ihrem sprachlichen Umfeld geprägt, sie durchlaufen dieselben Schulen und Bühnenerfahrungen wie ihre gleichsprachigen Kollegen aus dem benachbarten Ausland.
Dennoch setzen sie sich immer wieder mit ihren regionalen Wurzeln auseinander. Sie sprechen eine Bildsprache, die ihren Ursprung hier und jetzt hat. Und fast alle bringen einen Erfahrungsrucksack mit, den sie im Ausland gefüllt haben. Gemeinsam teilen sie – über die Sarine und den Gotthard hinweg – den föderalistischen Gedanken, aber auch den Blick nach Aussen, ohne den man die Schweiz nicht verstehen kann.
Das Zusammenrücken von Theaterschaffenden aus verschiedenen Regionen ermöglicht eine Erweiterung der Wahrnehmung und neue Perspektiven. Gerade die Vernetzung über die Sprachregionen hinweg birgt ein gestalterisches und thematisches Potential.

Die Auseinandersetzung mit Bestehendem, das Hinterfragen von Gültigem und das Einnehmen verschiedener Perspektiven stehen vor jeder Veränderung und damit vor jeder Entwicklung und Innovation. Wir alle wollen uns zu einer fortschrittlichen Gesellschaft zählen. Aber wie wollen wir in Zukunft mit Mobilität, demographischen Veränderungen, Ökologie oder Ethik umgehen? Gerade hier erhoffe ich einen wichtigen Beitrag der Kultur, auch des Theaters. Hier können Themen aufgegriffen und vom Publikum weitergetragen werden. Heute Abend wird übrigens im Schauspielhaus Zürich die Premiere eines Theaterprojekts über die Autobahn A1 gefeiert.
Bis zum 6. Juni haben wir hier in Winterthur die Gelegenheit, Theaterproduktionen aus verschiedenen Regionen der Schweiz, Workshops und Referaten beizuwohnen. Nutzen wir diesen Raum der sinnlichen Erkenntniserweiterung und suchen wir den Austausch!
Ich danke dem Schweizer Theatertreffen für die Schaffung dieser Plattform, den Theaterschaffenden für ihr Engagement und dem Publikum für seine Aufmerksamkeit.
In diesem Sinne wünsche ich viele gute Begegnungen in den kommenden Tagen.