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  • Là il faut imaginer! On est au théâtre où c’est comme ça !

    Diese Giselle ist eine besondere Giselle. Denn sie kommt nicht vor.

    Die Titelheldin des berühmten Balletts in zwei Akten nach einem Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier, ursprünglich choreographiert von Jules Perrot und Jean Coralli zur Musik von Adolphe Adam, ist abwesend. Zumindest in der Version des französischen Regisseurs Francois Gremaud im Théâtre Vidy-Lausanne.

    Und das geht so. Eine leere Bühne, ausgelegt mit weissem Tanzboden. Darauf brav zur Kammermusik arrangiert vier Musiker*innen, mit Querflöte, Geige, Harfe und Saxofon bestückt. Am Bühnenrand, fast unmerklich, steht eine Frau. Ganz in schwarz verschmilzt sie fast mit den schweren, dunklen Vorhängen, die eine rechteckige Spielfläche säumen. Sie tritt ins Licht, an die Rampe. Sie beginnt zu sprechen, stellt sich vor als Samantha van Wissen, und beginnt eine – wie ich zunächst glaube – kurze Stück-Einführung. Zu Giselle, zu Entstehungsgeschichte und Aufführungspraxis, zum Ballett im Allgemeinen, den Epochenhintergründen, und vielem mehr. Ein bunter Strauss an Wissenswertem und Anekdoten. Nützlich, aber nicht unbedingt notwendig.

    «Tout en pantomime!»

    So wie dieser Einführungsmoment den Abend beginnt, charmant, aber unsauber, am Übergang zwischen Samantha van Wissen der Tänzerin und Samantha van Wissen der Figur in dieser Giselle-Aufführung, so beginnt fast unmerklich dann auch diese Giselle. Samantha sagt, dass es los geht, und dann geht es los. Zumindest für all diejenigen, die über eine rege Fantasie verfügen. Denn «Là il faut imaginer! On est au théâtre où c’est comme ça !» Wir erleben nun in knapp 100 Minuten ein Ballett, ohne dass es wahrhaftig stattfindet. Wir wohnen seiner Nacherzählung bei.

    «Et maintenant nous allons assistez à l’un des moments plus forts de la pièce!»

    Und so bleibt der Abend in gewisser Weise auf der Sprachebene kleben. Sicherlich: er besteht aus Klängen, die Worte formen, und aus Musik. Es wird auch getanzt: höchst virtuos und agil schmettert Samantha dieses komplexe Ballett fast im Alleingang auf den Tanzboden. Wenn auch meist nur in Andeutungen und Paraphrasen der einzelnen Partien. Und doch beschleicht mich der Eindruck, dass es sich mehr um ein Hörspiel denn um einen Tanztheaterabend handelt. Ich erinnere mich an «Peter und der Wolf» oder den «Karneval der Tiere». Auch fühle ich mich durch diese strenge Form der Nacherzählung – Reenactment möchte ich es nicht nennen – ein wenig an der Nase herumgeführt. Ein Gefühl, das mich bisweilen auch interessiert und anregt. In diesem Fall mangelt es aber am sich einlösenden Momentum. Denn ich ahne bereits früh, was dann auch eintreffen soll: es gibt an diesem Abend keinerlei Veränderung, keinen Bruch, keine Steigerung, keinen Twist. Die Form ist streng, sie ist absolut. Und Samantha van Wissen? Sie stellt sich mit aller Hingabe in den Dienst dieser Form. Das funktioniert, leider aber nur für einen kurzen Moment. Selbst ihr Charme kann das nicht übertünchen. Auch die Grundidee der Interaktion, welche im Verteilen der wunderschön aufgemachten Giselle-Textbücher an das Publikum mündet, ist mehr überflüssiges Extra denn ernstzunehmende Wendung. Ist doch die Textebene zuvor schon überpräsent und bedarf nun wirklich keinerlei Manifestierung mehr.

    Es ist schade, dass dieser Abend sich nicht ein bisschen weniger ernst nehmen kann. Dass er bieder und gestrig anmutet. Und dass er, wie man auf der Website des produzierenden Hauses lesen muss, Teil einer nach dem gleichen Prinzip angelegten Trilogie ist. Für mich als zuschauende Theatermacherin leider eine Art zarter Todesstoss.

    Il faut imaginer Sysiphe heureux. Peut-etre faut-il aussi imaginer Samantha van Wissen heureuse, car en ayant conscience d'accomplir toujours la même tâche, de raconter une histoire sans y être part, elle choisi de mépriser la tragédie, et de se souvenir de la joie. Tout en pantomime.

    20.05.2022 — Clara Dobbertin
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